Thomas Felder

Musik&Wort

Notizen aus der Biographie von Thomas Felder

for English readers further down on this page : Excerpt from Baker’s Biographical Dictionary of World Musicians

nach einer Preisverleihung 2012: »Abschied aus Wettsingen«

Autobiographischer Vortrag 2020: »Von Wegen, die nicht amtlich ausgeschildert sind«

Am 19.3.1953 in Hundersingen auf der Schwäbischen Alb geboren. Musikalisches Elternhaus.
Mit sechs Jahren Klavierunterricht, mit zwölf erste Gitarrengriffe. Als Knabensopran solistische Auftritte in Kirche, Schule, Fernsehen.

1966-72 Kirchliches Internat mit Schwerpunkt im musisch-kulturellen Bereich.

1968  Begegnung mit Rudi Dutschke, Organisation eines Schulstreiks
1970  Teilnahme am ersten deutsch-israelischen Jugendaustausch, Art-Camp in Jerusalem. Eigenes Konzertprogramm,  erster Preis bei Talentwettbewerb in Schwäbisch Hall.
1972-79 Abitur, danach Studium der bildenden Kunst und Anglistik in
Stuttgart und London.
1972 als Straßenmusikant in Stuttgart von der Polizei festgenommen und vorbestraft wegen "Bettelei". Reisen nach Israel, Skandinavien, durch die USA.
1975-76  Ein Jahr in London. Lehraufträge und Konzerte an englischen Bildungsstätten, Auftritte in Folk-Clubs, Sendungen in der BBC.  Reise nach Polen zur Renovierung- der KZ-Gedenkstätte Stutthof.
1977 Drei Kleinkunstpreise in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg. Zahlreiche Rundfunk- und Fernsehsendungen. Gründung eines eigenen Schallplattenlabels mit erstem Album "Athomare Lieder".
1979-84  Montags Lehrer an Gymnasien und Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg.
1981 Erwerb und Ausbau eines Bauernhauses. Ausstellung eigener Plastik, Malerei und Grafik im Reutlinger Rathaus.
Seit 1982  Künstlerisch aktiv in der Friedensbewegung u. a. durch Musik-Blockaden vor Atomwaffen-lagern. Vor Gericht Strafbefehl wegen "Nötigung" gesungen. Richter verläßt den Saal fluchtartig.
Eintägiger Gefängnisaufenthalt in Tübingen wegen eines unerlaubten Konzerts auf militärischem Sperrgebiet (Amnestie durch Freispruch zwölf Jahre später).
1983 Begegnung mit Ivan Illich, Liedbeiträge zu seinen Veranstaltungen in Marburg, Müllhein, Ludwigsburg, später auch in Bremen.
1984 Teilnahme an der deutsch-französischen Liederwerkstatt "Bourges-Waldeck".
Platz 1 auf der SWR-Lieder-Besten-Liste mit "Nie wieder Frieden kriegen".
Seit 1985 Gastspiele und Sendungen in vielen Regionen West- und Ost-Deutschlands, in Belgien, Österreich und in der Schweiz.
1987 Einladungen des Goethe-Instituts nach Paris und Lille (Frankreich).
Seit 87 auch auf evangelischen und katholischen Kirchentagen.
Seit 1991 Workshops zum Thema "Schöpferische Quellen" (Körper, Stimme, Improvisation, Sprachmusik).
Seit 1995  Wandelndes Programm unter dem Titel Schwäbische Vesper (Uraufführung in Dresden in der Bomben-Gedenk-Nacht zum 13. Februar 95, danach Deutschlandtournee).
1996   Auftritte in christlichen Kirchen von Solapur und Kolar (Indien).
Übersetzung des jiddisch-hebräischen Romans Tante Esther von Arieh Eckstein (Israel) in Zusammenarbeit mit Revital Herzog.
1997   Mai: Schwäbische Vesper in Jerusalem (Israel), Nov./Dez. in Santiago, Valparaiso, Conception, Chillan, Valdivia und Ancud (Chile). Dazwischen: Kandidatur für das Bürgermeisteramt in Münsingen.
1998   Schwäbische Vesper im Ulmer Münster und anderen Kirchen des Landes.
Der SWR produziert das zehnte Album “Bewegnung“.
Leitung der Werkstatt  Musik&Wort auf Burg Waldeck.
1999 Januar: Zweite Indienreise mit Bettina Beutler, Besuch in Auroville.
Sommer: Acht Auftritte beim Stuttgarter Kirchentag, u.a. in der Schleyerhalle.
Platz eins der SWR-Lieder-Bestenliste: "Mir send des Gsälz von der Erde".
Fortsetzung der Werkstatt  Musik&Wort auf Burg Waldeck.
2000  Januar: Stadt Reutlingen und SWR feiern 30-jähriges Bühnenjubiläum im Spitalhofsaal
1997 - 2004 Planung und Fertigstellung eines Denkmals in Buttenhausen für 109 Opfer des Holocaust.
2004 Tod der Ehefrau Bettina Beutler-Felder am Tag nach der Premiere des Theaterstücks "Reise nach Jerusalem" (Musik:Thomas Felder). Sebastian-Blau-Preis (Publikum).
2005 CD "frühlingsblütenglühen"

seit 2006 Vater&Tochter-Konzerte gemeinsam mit Johanna Zeul.

2008 Musikalische Leitung des Sommertheaters »Das Feuer« um das Festspielhaus in Simmersfeld

2009 Aufnahme der CD »40 liederliche Jahre«, Studientag in Mariaberg zum Thema »Trauerkultur«.

2010  Januar: Stadt Reutlingen feiert 40-jähriges Bühnenjubiläum im Spitalhofsaal. Musikalische Leitung des Sommertheaters »Gertrude Pfeiflin - die Grenzgängerin« um das Festspielhaus in Simmersfeld.

2012 Nach 40 Jahren wieder ein Konzert auf dem Stuttgarter Marktplatz – damals von der Polizei gewaltsam unterbrochen – diesmal unter massivem Polizeischutz vor mehreren tausend Zuhörern im Rahmen der 142. Montagsdemonstration für einen erneuerten Kopfbahnhof. Sebastian-Blau-Preis.

2013 Herausgabe des Albums »von wegen«

2020 Abschiedstournee zum 50-jährigen Bühnenjubiläum. Von 50 gebuchten Konzerten konnten 35 erfolgreich durchgeführt werden. Alle weiteren Veranstaltungen wurden verboten wegen Ansteckungsgefahr.  Zunehmende Beschwerden einer Parkinson-Erkrankung führten zur Aufgabe seiner öffentlichen Konzerttätigkeit.

 

 

Buttenhausen, mein kleines Jerusalem.

Ein autobiographischer Bericht über den späten Versuch einer Würdigung fast vergessener Menschen.

Aufgewachsen 1953-70 in Hundersingen, lebte ich meine Kindheit in enger Nachbarschaft zu Buttenhausen. Hier kaufte man im »Konsum« ein, beim Bäcker gab es Brezeln und Eis für zehn Pfennig, beim Metzger Wurschträdla umsonst. Hier war die Autowerkstatt, der Flaschner, zwei Friseure, die Kinderstunde, der Posaunenchor, der Sportverein; zu den Bundesjugendspielen kamen die Buttenhausener nach Hundersingen. Während meiner Schulzeit am Münsinger Progymnasium kam ich etwa dreitausendmal durch Buttenhausen. Aber der Regenbogen war irgendwie unvollständig, da fehlte eine Farbe. Heute ahne ich, woran das lag: Keiner sprach von den Juden, die noch knapp vor meiner Zeit hier gelebt hatten. Ich war ins Schweigen geboren.

Nur zögerlich sickerten die ersten Informationen durch. Wo der »Konsum« gestanden hatte, setzten Überlebende aus aller Welt ihren ermordeten Schwestern und Brüdern 1961 ein Denkmal. Fünf Jahre später nahm mich mein Vater mit zur Enthüllung des Gedenksteins am Platz der abgebrannten Synagoge. Ich erlebte Professor Karl Adler aus New York, der als gebürtiger Buttenhausener wiedergekommen war um uns mitzuteilen: »Wer seine Heimat verloren hat, weiß erst, was Heimat wirklich bedeutet«. Nach weiteren vier Jahren, als Siebzehnjähriger, hatte ich das Glück, mit der ersten deutschen Jugendgruppe nach Israel reisen zu dürfen, die der frischgebackene Staat offiziell zu einem künstlerischen Austausch mit Gleichaltrigen in Jerusalem empfing. Auf diesem Art Camp sang ich mein erstes eigenes Lied über den Radiosender: »Much to Do«. Kaum jemand von den jungen Israelis hatte einmal »Oma« oder »Opa« sagen können. Die Eltern waren als letzte Überlebende ihrer Familien aus dem brennenden Europa ins »gelobte Land« geflüchtet, um hier neu anzufangen mit einem Seelengepäck, das sich jeder Begrifflichkeit entzieht.
Karl Adler hatte zur Einweihung des ersten Denkmals in Buttenhausen gesagt: »Wir wollten von unseren Schwestern und Brüdern das zurückbringen, was zurückgebracht werden konnte: Die Namen der Toten«. Das waren damals dreiundvierzig. Günter Randecker hat während seiner Amtszeit im Münsinger Stadtarchiv eine Liste mit fast hundert weiteren Namen von jüdischen Bürgern zusammengestellt, die 1940-44 vorübergehend in Buttenhausen gelebt hatten, bevor sie in Vernichtungslager verschleppt und als Nummern ermordet wurden, um dann in Massengräbern und Krematorien spurlos zu verschwinden. Der Weg zum Friedhof, zu einem ordentlichen Begräbnis blieb ihnen verwehrt. Keine Inschrift erinnerte an sie.

Im Rahmen meiner Kandidatur 1997 für das Bürgermeisteramt in Münsingen machte ich auf diese liegengebliebene Hausaufgabe aufmerksam. Zusammen mit Revital Herzog gravierte ich die mir damals bekannten Namen auf Deutsch und Hebräisch in Kupfer. CHC Geiselhart druckte die Radierung in einer Auflage von dreißig Exemplaren. Der Erlös sollte einem Mahnmal für die Vergessenen zufließen. Der erste, dem ich meinen Plan unterbreitete, war Herr Walter Ott, damals noch Ortsvorsteher in Buttenhausen. In langjähriger, liebevoller Kleinarbeit hatte er den jüdischen Friedhof vor dem Verfall bewahrt und die Grundlagen für eine Gedenkstätte gelegt. Ich bat ihn um Unterstützung, stieß aber auf kein Entgegenkommen. Unter den ersten Käufern waren der ehemalige und der nachfolgende Bürgermeister von Münsingen, die Herren Keller und Münzing. Letzterer beauftragte Herrn Deigendesch vom Stadtarchiv, eine möglichst vollständige, amtliche Liste der betreffenden Personen zu erstellen und gemeinsam mit mir umzusetzen.

Als mich Herr Deigendesch in Gönningen besuchte, um das Projekt zu konzipieren, wollte er für die Stadt ein kostenloses Belegexemplar der Grafik mit der Begründung, die Namen auf dem Blatt entstammten einer Quelle seines Archivs. Diesen Wunsch konnte ich ihm nicht erfüllen. Mein Ziel war es ja, einen möglichst hohen Betrag für die Gestaltung des Denkmals zu sammeln. Auch wollte ich die Wertschätzung der künstlerischen Arbeit nicht untergraben. Herr Deigendesch brachte drei Blätter in die Buchhandlung Schatz nach Münsingen, wo auch bald ein Exemplar über den Ladentisch ging, nämlich dasjenige fürs Amtszimmer des Bürgermeisters. In den darauf folgenden zwei Jahren fand sich in Münsingen kein Käufer mehr.

Ich wurde um einen Gestaltungs- und Kostenentwurf für das Mahnmal gebeten. Ursprünglich war an eine schlichte Metallplatte auf einem Kalksteinfindling gedacht. Bei der Frage nach dem Standort erhielt ich die Information, eine Platzierung in der Dorfmitte stoße auf Widerstand bei der Dorfbevölkerung. Man sei die Gedenktafeln satt. Deshalb dachten wir an den jüdischen Friedhof, wobei sich allerdings die israelitische Gemeinde Stuttgart als Hausherrin mit einer Genehmigung zurückhielt. Schließlich blieb noch der Bereich vor dem Friedhof am Ortsrand als sinnvolle Möglichkeit einer Freiland-Installation.

Je mehr mich die ganze Geschichte beschäftigte, desto klarer wurde mir: Die Verbrechen waren so ungeheuerlich, daß ich sie nicht mit einer weiteren Tafel unter »ferner liefen« abhaken kann und darf. Ich suchte nach einer unauffälligen symbolischen Gestaltung in einem körperlich-sinnlich erlebbaren Raum. Der Pfad von der Straße zum jüdischen Friedhof in Buttenhausen ist etwa hundert Meter lang. Hätte man die Toten hier in einer Reihe aufgebahrt, so könnte sich dem ein Vorübergehender kaum entziehen. Der Weg selbst könnte das Denkmal sein und zum Er-Innern einladen. Mein erster Vorschlag war: Sanieren wir den oft matschigen Grasweg zum Judenfriedhof unter Einbeziehung beschrifteter Betonplatten, welche die Namen aller aus Buttenhausen verschleppten Juden tragen, als Mahnung und zur Erinnerung an die Unzähligen, die spurlos verschwinden und nicht den Weg zum Friedhof finden, bis heute.
Anfangs erhielt ich noch eine eingeschränkte Zustimmung von der Stadtverwaltung: »Ihr Vorschlag mit den Bodenplatten ist sehr interessant und sicher eine gute Lösung; allerdings haben wir die Befürchtung, daß sich dies von der Kostenseite her nicht realisieren läßt. Wir gehen davon aus, daß von Ihrer Seite DM 1000,- eingebracht werden, die durch eine gewisse - diesen Betrag aber sicher nicht übersteigende - Ergänzungsfinanzierung der Stadt aufgebessert werden.« Ich rechnete aus, daß die Stadt mit Hilfe eines Workcamps von Schülern vielleicht sogar billiger wegkommen kann, zumal eine Sanierung des Wegs ohnehin bereits in Auftrag stand und auch die Fahrzeuge des Bauhofs genutzt werden können. In einer detaillierten Bauanleitung mit ausführlicher Werkzeug- und Materialliste stellte ich dar, wie man für DM 500,- einhundertachzig Platten der Maße 20x50 cm und eine größere, armierte Betonplatte 175x50 cm herstellen und beschriften kann. Als Arbeitsfläche ging ich von einem ca. 50 qm großen, ebenen Estrichboden aus, der möglichst überdacht sein sollte. Die Antwort der Stadt gab mir schon eine Vorahnung, welchen Holzweg das Projekt einschlagen würde, wenn keine unabhängigen Fürsprecher mehr dazustoßen: »Mit Ihrem Vorschlag einer 25 qm umfassenden Bodenplatte mit den Namen der ermordeten jüdischen Bürger und auch der Idee, Schüler diese Arbeit ausführen zu lassen, ist ... ein ganz neuer Plan entstanden. Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit dieser "handgestrickten" Lösung der Sache gerecht werden ...«

Von der israelitischen Gemeinde Württemberg wurden die Betonplatten übrigens grundsätzlich begrüßt, allerdings nicht auf dem Boden, wo man die Leute wieder mit Füßen tritt, sondern am Wegrand. So reifte in mir der Gedanke, den Pfad hangseitig mit kleineren, unbehauenen Findlingen zu flankieren, die ruhig ein wenig einwachsen dürfen. Auf Dienstag, den 27. Juli 1999, 14 Uhr wurde ich zu einem Treffen mit folgenden Leuten zur Ortsbesichtigung und Projektbesprechung am Eingang zum Jüdischen Friedhof in Buttenhausen eingeladen: Bürgermeister Münzing, Stadtarchivar Deigendesch, Ortsvorsteher Ott. An Vertreter der israelitischen Gemeinde war nicht gedacht, also nahm ich in Stuttgart persönlich Kontakt auf und erhielt die Zusagen der Herren Arno Fern und Raphael Mizrahi. Außerdem von Herrn Stockburger, Töpfer und damals im Ortschaftsrat Buttenhausen.
Zur Veranschaulichung meines Vorschlags legte ich einige Tage vorher zusammen mit meiner Freundin Bettina Beutler vier längliche Mustersteine ins Gras an den Wegrand, die aber unmittelbar danach wieder verschwunden waren. Ein Anruf bei Herrn Ott ergab folgendes: Er selbst hatte die Steine zusammen mit seinem Sohn entfernt. Er habe die Geschichte von Buttenhausen aufgearbeitet und dulde keine Veränderung an seinem Lebenswerk, verstand ich am Telefon. Außerdem sei er tief gekränkt, daß man hinter seinem Rücken so etwas plane.

Am 20. Juli 1999 erhielt ich lapidar die Fax-Nachricht von der Stadt Münsingen, das Treffen könne aus Zeitgründen nicht stattfinden, ein neuer Termin werde noch mitgeteilt. Die Art, wie von Seiten der Stadt ein solcher Ortstermin behandelt und schließlich abgeblasen wurde, zeigte mir wieder den Stellenwert des Projekts. Unter gegebenen Umständen fühlte ich mich nicht gerade besonders herzlich dazu eingeladen. Vor allem mußte ich die Peinlichkeit auf mich nehmen, den genannten Leuten allesamt wieder abzusagen. Nachdem ich meinen Unmut kundgetan hatte, kam eine Erklärung aus Münsingen, das Landratsamt habe kurzfristig zu einer Sitzung geladen, man wolle mich nicht zum Narren halten. Neuer Termin: 1. September 14 Uhr. Die Stadt versprach mir von sich aus alle genannten unabhängigen Leute erneut einzuladen. Keiner von ihnen war dabei, als das Projekt schließlich vor Ort besprochen werden sollte, keiner war über den neuen Termin informiert worden. Da mein Anschauungsmaterial schon beseitigt war, gab es auch gar nichts mehr zu besprechen. Herr Ott stemmte sich mit Nachdruck gegen jede Veränderung. Mit den Herren Münzing und Deigendesch wurde ich einig, daß wenigstens eine Gedenktafel im Museum der Bernheimerschen Realschule aufgehängt wird. Herr Ott reichte mir zum Dank für mein Abrücken vom ursprünglichen Plan die Hand. Er sei sehr erleichtert. Bei einem zweiten Termin in der Realschule gab er mir wieder die Hand, schaute aber dabei betont zur Seite. Er beklagte das viele Geld für so eine Gedenktafel. Der Sportverein könne es nötiger gebrauchen. Ich erklärte ihm, daß das Geld für die Tafel längst bereit liege und daß der Gemeinde keinerlei Kosten entstünden, aber offenbar hatte er gerade ganz andere Sorgen. Ich wusste damals noch nicht, daß seine Wiederwahl in Zweifel stand. Immerhin einigten wir uns darauf, daß eine gravierte, in Holz gerahmte Metallplatte des Formats 100x60 cm im hinteren Zimmer des Museums an die Wand gehängt werden soll.

Zum Jahreswechsel 99/2000 erhielt ich von Herrn Deigendesch die endgültige Liste aller Namen, die auf der Tafel erscheinen sollten. Er hatte noch einmal ausgiebig recherchiert, wobei klar war, daß durchaus noch der eine oder andere Name auftauchen kann, der dazugehört. Deshalb habe ich unten noch Platz gelassen. Bei der technischen Ausführung gab es Probleme. Zuerst hatten wir ja an eine zweisprachige Liste auf Deutsch und Hebräisch gedacht; bald stellte sich aber heraus, daß der Aufwand in keinem Verhältnis zur Sache stehen würde. Selbst beim rein deutschen Text war die Gravierwerkstatt leicht überfordert und lieferte am Ende, als alle Mißverständnisse beseitigt schienen, noch den Text einer überholten Fassung, was mir leider erst ein halbes Jahr nach Bezahlen der Rechnung auffiel. Es stehen nun einhundertzwölf Namen auf der Platte, statt einhundertneun.

Seit die fertige Tafel in meiner Wohnung stand, ließ mir die Geschichte keine Ruhe mehr. Die Menschen wurden in meinen Träumen lebendig, wanderten durch Buttenhausen, stellten sich in Reihe und verschwanden wieder in der Gravur. Ich begriff, daß ihre Namen, wenn sie nach sechzig Jahren wieder ins Gedächtnis von Buttenhausen zurückkehren, nicht ins Museum gehören. Vielleicht später. Aber gerade jetzt, wo man im Reutlinger SSV-Stadion den sportlichen Gegner wieder nach Auschwitz wünscht (Eine Gruppe von fünfzig Reutlinger Fans hatte beim Spiel gegen den 1. FC St. Pauli mehrmals lautstark das Lied gesungen: »Wir baun euch eine Autobahn von St. Pauli bis nach Auschwitz!«), sollte wenigstens in meinem Wirkungsbereich ein lebendiges Mahnmal zustande kommen, dessen Geist sich in starkem Kontrast dagegen abhebt. Ich erwog deshalb einen Termin möglichst noch vor den Totengedenktagen und einigte mich mit der Stadt auf den 12. November, die Namen der Öffentlichkeit vorzustellen. Zum Programmablauf des Festakts schlug ich vor, nach den Reden und der Musik gemeinsam vom Bürgersaal zum Judenfriedhof zu gehen, und dort als befristete Installation die Namen auf Holzpflöcken in den Wegrand zu schlagen. Herr Deigendesch hielt nichts von einer derartigen »Via Dolorosa«. Mir wurde klar, daß ich meinem Traum unter Umständen allein Gestalt geben musste. Ich kaufte das Holz und fertigte eine Palette voll kleiner Einzeldenkmäler. Frau Sylvia Stein als neu gewählte Vorsitzende des Ortschaftsrats in Buttenhausen bat ich um wohlwollende Unterstützung, die mir leider nicht zuteil wurde. Sie ersuchte mich stattdessen, meine Kunst außen vor zu lassen. Man sei überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen, daß da jetzt wieder ein neues Denkmal kommt. Herr Ott habe seinen Ortschaftsrat schlecht informiert, mit ein Grund übrigens für seine Abwahl. Mit der Tafel im Museum sei man einverstanden, nicht aber mit einer Installation am Weg zum Friedhof, man habe genug Denkmäler am Ort und wolle kein »kleines Berlin«. Schließlich sei keiner dieser Leute in Buttenhausen umgekommen oder hier begraben. Dies sei der einstimmige Beschluß des Ortschaftsrats. So endete der Anruf von Frau Stein im Spätsommer 2000. Auf meine ausführlichen Schreiben an jede/n einzelne/n der sechs Ortschaftsräte kam keine einzige Antwort.

Ich hielt es für angebracht, den Stand der Dinge nun der örtlichen Presse zu berichten. Es erschien ein Artikel im Alb-Boten, der ziemlich rasch auch andere Medien auf den Plan rief. Aus Presse und Rundfunk erfuhr ich u.a., daß mein Ansinnen in Buttenhausen als »völlig überzogener Humbug« gehandelt wurde. In Münsingen verwahrte man sich gegen »Aktionismus« und machte aus einem »hinteren Zimmer« gar ein »verstaubtes Museum«. Lichtjahre künstlich erzeugter Distanz klafften zwischen Wiesaz und Lauter. Was hatte ich da nur angerührt? Wie sollte ein derartig humorloses Gezänk in einer versöhnlichen Feier enden?

Inzwischen hatten sich einige Menschen an mich gewendet und versprochen, beim Aufstellen der Pflöcke zu helfen. Bettina machte sich Gedanken, wo man danach zusammenkommen könnte. Herr Weippert, der Heimleiter vom »Haus am Berg«, einer diakonischen Einrichtung in Buttenhausen stellte die Teestube zur Verfügung, um den 12. November bei Most und Zwiebelkuchen ausklingen zu lassen. Bürgermeister Mike Münzing rief an und warnte noch einmal, mit den Holzpflöcken bitte »kein Porzellan zu zerschlagen«. Zusammen mit Christiane Zeul erarbeitete ich in zehn Proben ein Musikprogramm. Die Spannung der Veranstaltung wollten wir in eine Kraft umwandeln, die den Blick auf das Wesentliche, auf das Gemeinsame lenkt.
Ich schrieb an den Landrat Dr. Wais und an Dekan Poguntke, die ich um Vermittlung bat. Herr Pfarrer Dr. Oswald hatte mich vorher schon auf ein Gespräch empfangen und mir zugesagt, diesen Versuch zu unternehmen; ohne Erfolg. Herr Deigendesch schickte mir den Programmentwurf, aus dem nicht hervorging, ob jemand von der israelitischen Gemeinde an der Feier teilnimmt. Er bat auch um den Titel des Musikprogramms. Obwohl ich zuvor klar und deutlich geschrieben hatte, daß für diesen Beitrag ein Honorar fällig wird, wurde kein Wort darüber verloren. Deshalb bezifferte ich den Wert der Uraufführung mit zwei Musikern inclusive aller Nebenkosten wie Fahrtspesen, Umsatzsteuer und GEMA-Gebühren auf sechshundert Mark. Prompt wurden wir auf vierhundert heruntergehandelt. Auch dem fertigen Programm war nicht zu entnehmen, ob ein jüdischer Vertreter kommt.

Am Sonntag, den 12. November gegen 14 Uhr brachte ich die Gedenktafel zur Bernheimerschen Realschule nach Buttenhausen und fuhr kurz danach mit Pflöcken, Hämmern und Steinen zum Friedhof. Das Material sollte dort im Wagen bereit liegen. Auch wollte ich zuvor den Kasten für das Besucherbuch an einem größeren Pflock anbringen. Da fiel mir auf, daß der Pferdezaun, der die Jahre zuvor oben auf der Böschung verlief, heute provisorisch verdoppelt war und in seiner Erweiterung ganz unten am Weg entlangführte. »Do kommt koe Pflock rae,« wurde ich auch schon angesprochen, und zwar vom Grundstückseigentümer der angrenzenden Wiese, der sich mit Loser, Reinhold zu erkennen gab. Er fühlte sich wieder einmal von der Stadt hintergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt. Aus der Zeitung habe er es erfahren, man habe ihn nicht gefragt. In der Tat hatte ich dies nicht für nötig gehalten und ich entschuldigte mich bei ihm für das Versäumnis. Als ich ihm erklärte, ich sei gar nicht von der Stadt, und ihm schriftlich versicherte, die Installation zum Jahresende wieder abzubauen, wurde er freundlicher.

Es war höchste Zeit, zum Festakt in die Bernheimersche Realschule zurückzugehen. Dort gab es kaum noch ein Durchkommen. Der Bürgersaal war voll bis auf den letzten Stehplatz. Auf Gängen und Treppen des Hauses drängten sich die Besucher, um den Grußworten, dem Referat und der Musik zu lauschen. Mike Münzing gelang ein erfreulicher Brückenschlag in seiner Begrüßungsansprache. An zweiter Stelle ergriff Raphael Mizrahi, Vertreter von Yad Vashem, Jerusalem und der Israelitischen Gemeinde Stuttgart das Wort. Er nannte die geplante Reihe von Holzpflöcken »eine gute Idee«. Frau Stein bedankte sich bei mir für die Ergänzung der Arbeit von Herrn Ott, bat aber darum die Entscheidung des Ortschaftsrats zu akzeptieren. »Wir wollen kein Museumsdorf sein, sondern eine sich weiterentwickelnde Gemeinde«. 1938 hatte Buttenhausens Bürgermeister Hans Hirrle sinngemäß an das Oberamt Münsingen geschrieben: »Buttenhausen muß darauf aus sein, in Bälde Industrie anzusiedeln ... Es kann aber keinem Unternehmer zugemutet werden, etwas zu unternehmen, wenn immer mehr Juden zuwandern.« Herr Deigendesch stellte dieses Zitat an den Anfang seines Referats. Exemplarisch beleuchtete er u.a. die Schicksale des Lehrers Abraham Bloch, der Goldschmiedin Paula Straus und der Krankenschwester Johanna Bogdanow, die in dem so genannten Jüdischen Altersheim Station machen mussten. Leider redete sich der Stadtarchivar am Ende noch »in Rage« und wirbelte unnötigen Staub auf.

Als danach zum Bordun der Drehleier das Saxophon erklang und die Namen der Tafel aus der Musik auftauchten, flossen Tränen im Publikum. Spätestens beim zehnten Namen saß niemand mehr auf dem Stuhl. »Buttenhausen, mein kleines Jerusalem« gesungen auf Schwäbisch und Hebräisch ... Für mich war es das bewegendste Konzert in meiner alten Heimat seit 1983, als Amtsrichter Rainer und der Staatsanwalt wegen meinem Gesang fluchtartig den vollen Gerichtssaal verließen. Es ist ein Unterschied, ob man in irgendeiner Mehrzweckhalle singt, oder in so einem Raum wie diese Bernheimersche Realschule. Mein Großvater erhielt um das Jahr 1920 ein Angebot, hier die Schulleitung zu übernehmen. Er zog aber das Herrenberger Gymnasium vor, von wo er 1933 nach Reutlingen strafversetzt wurde, weil er die Bilder von Hindenburg und Ludendorf aus den Klassenzimmern entfernt hatte. Statt des Großvaters kam dann mein Vater 1952 ins Lautertal, »noch hinter Buttenhausen«, wie die Familie zu witzeln pflegte. Wäre ich eine Generation früher zur Welt gekommen, hätte ich wohl in diesem Haus meinen Schulunterricht erhalten; sicher keinen schlechteren als im Münsinger Progymnasium der Sechziger Jahre, wo es zum 17. Juni immer hieß: »Absingen des Deutschlandlieds mit allen Strophen«, und wo ich einmal zufällig den Direktor am Telefon sagen hörte: »Jawohl, Herr Bürgermeister, Ihr Sohn muß die Klassenarbeit selbstverständlich nicht mitschreiben«.

Zu gerne wäre ich wieder der brave Bub von damals geworden, der zu allem nickt, was von oben einstimmig beschlossen wird. Aber das ging jetzt nicht mehr. Hier und jetzt nicht. Dieser Beschluß entsprang einer offenen Wunde, die ich nicht gerissen habe und nicht heilen kann, die aber vielleicht auch gar nicht heilen darf. Solange diese Wunde klafft, erkennen wir auch den Abgrund, an dem wir stehen, wo Menschen reihenweise hin- und hergeschoben und achtlos zerstreut und vernichtet werden. Jeder von uns könnte ein Teil dieser endlosen Reihe sein, deren winziger Buttenhausener Ausschnitt nun sechs Winterwochen lang zeichenhaft am »Gutort« stehen sollte. Ich lud alle Anwesenden dazu ein, mit mir den Weg zum Judenfriedhof zu gehen. Vorbei am Geburtshaus von Matthias Erzberger, der 1918 unzähligen Soldaten das Leben rettete, indem er ein Waffenstillstandsabkommen mit den Siegermächten unterzeichnete: sein eigenes Todesurteil, wie sich drei Jahre später zeigte. Vorbei an dem Platz, wo vor zweiundsechzig Jahren ein junger Mann aus Münsingen mit dem Auto vorfuhr, Benzinkanister und Brandstifter mitbrachte, um das jüdische Gotteshaus in Flammen aufgehen zu lassen. Irgendein anonymer Mann? Seine Schwester wusch meine Windeln, sein Sohn brachte mir die ersten Gitarrengriffe bei. Auch in dieser Reihe stehen wir, ob wir wollen oder nicht. »Es gab nichts anderes«, höre ich meinen Vater sagen, wenn er von der nationalsozialistischen Gleichschaltung spricht. Eine Sophie Scholl, einen Dietrich Bonhoeffer kannte er nicht, damals. Es war alles schon zu einstimmig.

Wir erreichen meinen Wagen, in dem die Namenspflöcke liegen, von Jenny Zamory bis Sophie Ackermann rückwärts dem Alphabet nach. Einhundertzwölf Namen habe ich auch im Besucherbuch abgedruckt. Die Menschen nehmen sich einen Pflock, schreiben ihren eigenen Namen hinter dem des Pflocks ins Besucherbuch, sie tragen einen Hammer und einen Stein auf dem Weg zum Friedhof. Die ersten gehen ganz nach vorn bis zum Eingang und beginnen dort mit dem Einrammen der Pflöcke. Die Bildhauerin und Malerin Simone Schulz aus Untermarchtal berichtet mir später, wie ihr dabei zumute ist: »Übel und schwindelig. Ich schreibe mich hinter den Namen eines Menschen, dem der letzte Rest seiner Würde genommen wurde. Erst als ich den Klöpfer und diesen Pflock in den Händen spüre, als ich das Holz in den Boden treibe, Schlag um Schlag, als mein Kind den Stein drauflegt, da wird mir leicht ums Herz.«

Ich schätze, etwa einhundertfünfzig Menschen bewegen sich hier auf dem Weg. Sie begegnen sich bei einer gemeinsamen Arbeit, zu der sich jede/r einzelne persönlich entschlossen hat, oder als Zuschauer. Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft, auch Buttenhausener. Ich sehe Juden aus Unterhausen, Göppingen, Stuttgart und Leonberg, Kirchenleute, Politiker und Kulturschaffende, Lehrer und Schüler. Viele kenne ich nicht. Um die einhundertfünfzig sollen es auch gewesen sein, die hier vor sechzig Jahren noch einmal beim Namen genannt wurden. Heute abend erhalten sie ihre Würde zurück. Es wird dunkel. Die letzten Unterschriften werden eingetragen, die letzten Pflöcke verteilt und eingeschlagen. Ich beeile mich, rechtzeitig zum Kaddish, zum Totengebet auf den Friedhof zu kommen. Ein Reporter fragt mich Löcher in den Bauch, bis die Stufen erreicht sind.

Hunderte von Lichtern brennen dort. Pfarrer Gerhard Bergius singt, viele singen mit ihm den Refrain: »Donnai donnai ...« Pfarrer Bernhard Leube rezitiert ein Gedicht von Nelly Sachs: »Himbeeren verraten sich durch ihren Duft im schwärzesten Wald, aber der Toten abgelegte Seelenlast verrät sich keinem Suchen« ... Raphael Mizrahi spricht und singt das Kaddish auf Deutsch und Hebräisch am Mahnmal für die Opfer des Haulocaust. In seinem Gesang klagen sechs Millionen Ermordete, die bekannten Namen ihrer Todeslager fauchen wie hungrige Drachen aus dem hebräischen Text. Zwei frische Kranzgebinde aus Stuttgart und Jerusalem liegen an dem Mahnmal. Sechs Lampen werden davor angezündet. Ich wünschte mir, diese Lampen zusammen mit Herrn Ott, Frau Stein, Mike Münzing, Herrn Deigendesch und Raphael Mizrahi zu entzünden. Aber von den ersteren ist niemand zugegen. Der Lichterzug setzt sich behutsam über die Friedhofstreppen in Gang, vorbei an den Holzpflöcken, am Platz der Synagoge, hinunter zum Mahnmal in der Ortsmitte. Hier setzen die Menschen ihre Kerzen ab und ordnen sie zu einem Muster unter den drei großen Gedenksteinen.

Über die Straße ging es dann zum hellerleuchteten Schloß hinauf. Die Teestube wäre zu klein gewesen für die vielen Leute. Deshalb schmückten Frau Binder und Frau Sohmer kurzentschlossen den großen Saal mit weißen Tischdecken und Blumen. Es sei so ein schöner Anblick vom Schloß aus gewesen, die vielen Lichter den Berg hinunter durchs Dorf wandeln zu sehen. Eine reiche Auswahl an gutem Gebäck und Getränken stand bereit, so daß alle sich stärken konnten nach dem gemeinsam Erlebten. Viele Auswärtige wussten nicht, in was für einer Einrichtung sie zu Gast waren. Ihnen gab Herr Weippert einen kurzen Einblick in die wundersame Geschichte des lange verschollenen Testaments der Gräfin von Liebenstein, das wir heute mit dem »Haus am Berg« als wahrlich erfüllt betrachten können. Er erklärte, daß die meisten der heute hier lebenden Menschen mit schweren Schicksalsschlägen behaftet sind und menschlicher Zuwendung dringend bedürfen. »Gedenken an die Toten ist wichtig«, fügte er hinzu, »aber die Lebenden dürfen wir darüber nicht vergessen.«

Der Kreis schließt sich: Am Sylvestermittag 2000 traf ich mit einer Gruppe von Helfern am Judenfriedhof in Buttenhausen zusammen. Wir nahmen die Pflöcke vom Wegrand, pflanzten Narzissenzwiebeln in die Löcher und trugen die Hölzer ins Friedhofsgelände. Unterhalb der letzten Gräber, in der Nähe des Westausgangs errichteten wir im Auftrag der israelitischen Religionsgemeinschaft Baden-Württemberg ein neues, provisorisches Denkmal. Die 109 Namen stehen jetzt in einem vierfachen Kreis mit dem Radius einer Pflocklänge (1m) dicht beieinander. Die Geometrie der Installation ist nach jüdischer Symbolik aufgebaut: Der äussere Kreis hat sechsunddreißig, der innere vierundzwanzig Namen. Sie stehen so zueinander, dass jeder sechste im Aussenkreis und jeder vierte im inneren die Spitzen, bzw. Tangentenmitten des Davidsterns markieren. Dieser bleibt freilich dem uneingeweihten Betrachter verborgen. Die beiden Zwischenkreise haben drei mal sieben und vier mal sieben, also zusammen sieben mal sieben Namen.

Fast zwei Jahre lang stand das hölzerne Denkmal im Friedhof. Die Kreideschrift begann zu verblassen, einzelne Namen waren nur noch schwer lesbar, mancher Pflock unten angefault. Zeit also für eine dauerhafte Installation. Die Deutsche Bahn AG hatte ich von der Sache unterrichtet und angefragt, ob sie mir einhundertneun Meter altes Schienenmaterial aus ihren Schrottlagern als Sachspende überlassen könnte - diese Menschen seien ja auf Eisenbahnschienen in den Tod transportiert worden, das Material böte sich also an. Die Antwort war ein Hinweis auf bereits geleistete Wiedergutmachung. Ich bekam kein Eisen von der Bahn. Zufällig entdeckte ich mit Bettina in einem stillgelegten Sägewerk schmalspurige Bahngleise, auf denen früher einmal Baumstämme ins Gatter geschoben wurden. Die Besitzerin erlaubte uns, ein paar Schienen abzumontieren. Nach einjähriger Suche in der weiteren Umgebung hatten wir das Rohmaterial aus verschiedenen Quellen beieinander. Mit Winkelschleifer und Lackpinsel fertigte ich daraus neue, stabile Namensträger, die am 12. September 2002 an die Stelle der Holzpflöcke gesetzt wurden. Hellmut Haasis und Jürgen Heller halfen bei der Arbeit. Tatkräftig unterstützt wurden wir vom Bildhauer Franz Ludescher, der in unmittelbarer Nachbarschaft eine sehr originelle Tagungsstätte, betreibt: die »Domperle zu Buttenhausen«. Der Neubau entstand als runde Holz-Lehm-Konstruktion zeitgleich mit dem Denkmal auf dem Friedhof.

Schlussendlich wollte ich die provisorische Informationstafel neben dem Denkmal durch eine dem geschichtlichen Rundgang durch Buttenhausen angemessene Metallplatte ersetzen. Dazu stellte ich einen Antrag bei der Landeszentrale für politische Bildung, welcher auch bewilligt wurde. Allerdings ließ die Unterschrift eines gewissen Herrn Lipinski, dem neuen Geschäftsführer der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg ungewöhnlich lange auf sich warten, weshalb ich mehrmals bei ihm nachhakte, aber nie eine Antwort bekam.
Inzwischen war Bettina an Brustkrebs erkrankt und wir hatten andere Sorgen. Meine Liebste wurde vier Wochen nach unserer Hochzeit im Sommer 2004 heimgerufen. Kurz nach ihrer Beerdigung klingelte wieder das Telefon. Frau Baur von der LPB wollte wissen, wo die Unterschrift der IRGW denn bleibe. Das Geld für meine Tafel liege noch den Herbst über zweckgebunden bereit und werde danach anderweitig ausgegeben. Es stellte sich heraus, dass alle meine mühselig erarbeiteteten Unterlagen verschwunden waren. Ob der Herr Lipinski diese Schlamperei absichtlich betrieben hatte, um die Fördermittel zu Gunsten ihm wichtigerer Projekte umzuleiten, kann ich nicht behaupten. Jedenfalls gab es im Vorstand genügend Stimmen für die Lerntafel in Buttenhausen, sobald der Fall dort bekannt und besprochen wurde. Umgehend kam die Unterschrift und die bewilligte Summe in Höhe von eintausend Euro, so dass ich die Gravur der Inschrift leicht verspätet in Auftrag geben konnte.

Am 16. März 2005 wurde in Stuttgart vor dem ehemaligen Wohnhaus der Sängerin Meta Neumann in der Hackländer Straße 29 ein so genannter Stolperstein verlegt. Der Aktionskünstler Gunter Demnig hatte von Karin Schimmelpfennig aus Teckenburg den Auftrag dazu erhalten – ich durfte das Musikprogramm gestalten. Bei der Gelegenheit gab es einen Steh-Empfang im gegenüber liegenden Gemeindezentrum der Christuskirche. Ich kam ins Gespräch mit einem Herrn Stäbler, der mir berichtete, er stamme aus Buttenhausen. Sein Vater habe damals das Landheim geleitet und Meta Neuman habe ihn, den neunjährigen Knaben in Englisch unterrichtet. An ihrer Haustür habe ihn ein Mitschüler abgepasst mit den Worten: »Du warsch bei dr Judasau! Des meld i, wenn Du mir jetz et den Gfalla duasch...«. Von weiteren Zeitzeugen erfuhr ich, es habe in Buttenhausen keine einzige Familie gegeben, die sich nicht an den Hinterlassenschaften der verschleppten Juden bereichert hätte. Es sei ein kollektiver Zwang gewesen, dass alle mitschuldig wurden. So sei das jahrzehntelange Schweigen zu erklären. Am Abend fand im voll besetzten Theaterhaus eine Gedenkveranstaltung statt. Es wurde bekannt, dass Meta Neumann über vierzig Jahre getaufte Christin war, bevor sie nach Buttenhausen und schließlich ins Todeslager Theresienstadt verschleppt wurde. Sie starb dort im Alter von 84 Jahren keinen natürlichen Tod. Ein Schicksal von unzähligen anderen.

 Eine Bildreportage zum Buttenhausener Holzweg finden Sie auf der Homepage des Fotografen Willi Schühle unter: http://www.willi-schuehle.de/thomas_felder/index.html

 

For English readers:

Excerpt from Baker’s Biographical Dictionary of World Musicians
Volume 1: Africa, Europe and the Middle East
by Ken Hunt


Felder, Thomas, Hochdeutsch (High German) and Swabian dialect Liedermacher (‘song maker’), vocalist and multi-instrumentalist, born March 19th 1953, Hundersingen, near Münsingen in the Swabian Alps, Baden-Württemberg, Germany.

High German may represent Germany’s linguistic pinnacle but German remains a patchwork of dialects. Felder’s Swabian voice demonstrates this non-standard cultural verity perfectly. Liedermacher is a word failed in its bland translation as ‘song-writer’. In Germany the word - with its echoes of Lieder (art-songs) in their eighteenth- to twentieth-century classical settings - imparts a sense of literary continuity. The work of the Liedermacher movement’s finest songsmiths (Franz-Josef Degenhardt, Christof Stählin and others) has an eloquence and an elegance rivaling the finest offerings of Brassens and the French-speaking chansonniers, with whom knee-jerk fashion movement is compared. Felder belongs to the next generation. Like his ‘mentors’ he began writing in High German. Unlike them he made his mark with dialect compositions and a more abstract performance style that fanfared vocal virtuosity (ranging from a bear-like growl to a lark-soaring falsetto) underpinned by the drones of hurdy-gurdy.
Folk music gripped the schoolboy Felder; Bob Dylan became a model. By the age of 17 he had developed a performance repertoire. In 1975 he encountered an alternative, parallel folk world through Zupfgeigenhansl’s Thomas Friz and Erich Schmeckenbecher: people singing German folksongs. At school a teacher invited Albert Mangelsdorf and Manfred Schoof to play. Jazz entered Felder’s worldview, reflected in the wordjazz of compositions such as “So Beni” and “Pappmaschee” (papier mache).


Between 1972 and 1979 he studied the Arts and Anglislik (English studies) at the Staatiche Kunstakademie and the University in Stuttgart; fittingly his first song was "Much To Do”. In 1975 he lighted upon the work of the Austrian singer and painter, Arik Brauer who sang in Austrian dialect. Ironically Felder made this discovery at the Goethe-Institut while working in London as an assistant teacher. It would lead to him ‘finding’ his natural Swabian voice and rejecting the linguistic conditioning and brainwashing proclaiming High German’s linguistic supremacy. While cycling in London he encountered a gaggle of schoolchildren. Spontaneously he composed, “Kender mo sender mo gangater na...” (In High German this would have been “Kinder wo seid ihr, wo geht ihr denn hin... ?” meaning “Children, where are you, where are you going?”) Those home thoughts from abroad became His formal declaration of intent “D’Volksrealhauptobrschual” (the bureaucratic compound noun for both lower and high school) on Athomare Lieder (“Athomic Songs”). On this debut he played guitar and organ with color instrumentation provided by others. Between 1980 and 1984 he continued to teach part time. Songs such as “En onsre hoemische Wälder” (In Our Native Woodlands), in which he likens the proliferation of rocket bases to poisonous fungi, “Nie wieder Frieden kriegen” (Never Make War For Peace Again or Never Get Peace Again because kriegen means to ‘get’ and ‘make war’)’ “Der Luftpfenning” (The Price of Air) on Sinnflut about the buying and selling of natural resources, reflected his concerns about peace and environmental issues. As did his Swabian reworkings of Malvina Reynolds’ “Little Boxes” (“Kloene Kischdla”) and Buffy Sainte-Marie’s “Universal Soldier,” (“Halt ao Soldat”). In 1983 he was indicted for taking part in the blockade of the missile base at Engstingen. Much to the annoyance of the bench, Felder addressed the court in song, and was reprimanded for his trouble with, “The language of the court is German and not sung!”


The incidence of High German declined steadily, ousted by Swabian. The politics of language and the politics of survival converged with Schwäbische Vesper (Swabian Vespers), recorded at Felder’s concert celebrating his silver jubilee as a performer at the Peter-und-Paul-Kirche in Reutlingen-Gönningen by Südwestfunk (SWF) in October 1995. His inspiration for this masterpiece had origins in Dresden in 1994. He overheard someone rehearsing Jesus Christ Superstar. As she sang, “This could be my body. . . ”, while breaking bread, Felder instinctively heard, “Des ked mae Floesch sae. . . ” (This could be my flesh. .. ). The resultant suite, on which the pianist Michael Samarajiwa collaborated, received its concert premiere in Dresden on the fiftieth anniversary of the destruction of the city by British bombers in 1945. Schwäbische Vesper’s songs revealed Felder’s extraordinary talent for sly, Christian allusions in “Älles isch em Wandel” (Everything’s in flux) and vocal gymnastics drifting in and out of sense with “Pappmaschee”. Its hurdy-gurdy and trombone spot color was especially noteworthy. Vesperplatte (Vesper Record/Plate) superseded Schwäbische Vesper. As a “second, revised edition”, its ‘corrected dream’ is the stuff of most musicians’ pipedreams. Its “s brennt,” (It’s burning) rendered a town’s burning in song. Bewegnung (Movement and Meeting), primarily an album of originals, leavened with Stählin’s “Nein ich will frei sein” (No, I want to be free) and a Swabian “Guantanamera”. Sieben Sachen, a stop-gap release, brought together demos and past catalogue such as “Nie wieder Frieden kriegen” again pertinent with the deployment of Bundeswehr troops in Kosovo. Since 1998 he has run song workshops at Burg Waldeck in Hunsrück, home of song festivals since the 1960s. Felder’s place is as the first star to illuminate the German songwriting firmament with an unapologetically Swabian light.


Discography:


Athomare Lieder (TF) 1977; Bis jeder vom andern' die Heiterkeit kennt (Until everyone knows cheerfulness from others) (TF) 1978; Lang braucht zom komma (Long time coming) (TF) 1979; 0 i haod Naus so gschäricha vool—Lieder aus Träumen, Haß und Liebe (Brimful—Songs of Dreams, Hatred and Love) (TF) 1981; Nie wieder Frieden kriegen (TF) 1984; Ein Lääberkaus im Fahrstuhl zur Ewigkeit (A Leberkäse (Southem German warm meat confection) in an elevator to eternity) (TF) 1986, second edition 1992; Jenseits von Casablanca Chancon Rock Franco-Allemand ( AG Burg Waldeck/DFJ) 1986; Sinnflut (‘Sense flood’, punning on Sintflut, the Biblical flood) (Musik&Wort) 1991; Tanz&Folkfest Rudolstadt '92 (with Mari Boine Band) (Löwenzahn) 1992; Auf Gut Deutsch (with Konstantin Wecker, Ludwig Hirsch, Andre Heller, Wolf Biermann, Hannes Wader, Franz-Josef Degenhardt, Christof Stählin, Klaus Hoffmann and others) (Polymedia)1992; Au Banan (with Thomas C. Breuer, Wendelin Haverkamp, Hans-Dieter Hüsch and others) (ACCO Wort und Musik) 1994; Schwäbische Vesper (Musik & Wort) 1995; Lang braucht zom komma (reissue) (Musik&Wort) 1995; It's only Kraut (Profolk) 1997; Bewegnung (Musik&Wort) 1998; Vesperplatte (Musik&Wort) 1998, revisod, second edition of Schwäbische Vesper; Test the Best (Profolk) 1999; Sieben Sachen (Seven articles) (Musik&Wort) 2000; Flitterlampio (Musik&Wort) 2003; frühlingsblütenglühn (Musik&Wort) 2005. Für wen wir singen - Liedermacher in Deutschland Vol. 2,3 and 4 (Bear Family Records) 2007.
40 liederliche Jahre (Musik&Wort) 2010. »von wegen« (Musik&Wort) 2013.

Words of »Flitterlampio« (Translation):

Look, how this tree moves in the wind
A coloured flittering latern
Before a leaf lies down on earth
It sweeps and swings away
Sunrays turn somersaults
And leaves are blinking gold orange
They wave, turn, glide down in the mud
So that you like to wade in them
You hear crackling your childhood
Under the ankle-deep foliage
It is the rustling of your eternity
Life is turning in and out of dust


Bibliography:


T. Felder, Lieder (self-published songbook containing Athomare Lieder and Bis jeder vom andern die Heiterkeit kennt) (Reutlingen-Gönningen, 1978); T. Felder, Land vol Läaba— Swabian Songs with translation into German (self-published songbook containing Lang braucht zom komma and O i haod Naas so gschäricha vool) (Reutlingen-Gönningen, 1979); C. Stählin T. F., Folker! (Bad Honnef, 1999)


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© Thomas Felder